Weisse nächte

Weiße Nächte. Aus den Erinnerungen eines Träumers. Ein empfindsamer Roman.

Von Fjodor Dostojewskij. Fassung: Jona Manow

Premiere am 30.9.2020

Theater Das Zimmer

 

Regie: Jona Manow

Ausstattung: Heike Böttcher

Mit Sandra Kiefer und Lars Ceglecki

Fotos: Bela Hoche

 

Zwei Menschen treffen sich Nacht für Nacht am selben Ort und erspielen und träumen sich ihre Welt, ihre  Geschichte.

 

 

Presse

 

Auch die zweite Premiere in Hamburgs kleinstem Theater ist eine große Überraschung, denn sie lädt zum Träumen ein. Die Realität ist auf den Kopf gestellt – was könnte dieses Jahr besser zusammenfassen?

Wer hofft nicht darauf, eine freundliche Seele zu treffen, wenn er einsam ist? So ergeht es zwei Fremden, die sich abends am Kanal begegnen. Er rettet sie vor der Übergriffigkeit eines Anderen und erregt ihre Aufmerksamkeit. Dabei saß er nur so da – wie immer – und träumte vor sich hin. Von großen Lieben, die nie erwidert.  Ihr gefällt sein unaufdringliches Gemüt und so möchte sie mehr von seiner Geschichte erfahren. Sie verabreden sich für den nächsten Abend. Doch eine Bedingung gibt es: Er darf sich nicht in sie verlieben!

Schwierig, denn sein Blick zeugt von Faszination und Schwärmerei. Doch er weiß noch nicht, dass auch sie – wie jeder – eine Geschichte hat und die handelt von Liebe.

Das Hamburger ›Theater das Zimmer‹ überrascht zu Saisonbeginn gleich mit einer zweiten Premiere: ›Weiße Nächte‹ von Dostojewski. Der philsophisch-emotionale Dialog holt den Zuschauer direkt dort ab, wo er sich in dieser besonderen Zeit befindet: zwischen Träumerei und Illusionen. Die beiden Protagonisten – er nachdenklich, sie praktisch und situativ handelnd – veranschaulichen, welche Räume die Corona-Krise im Alltag schafft. Wenn nichts mehr ist, wie es scheint, ist er auf den Kopf gestellt. Und so wissen die Zuhörer bald auch nicht mehr, was wahr und was erdacht ist. Seine Sinne spielen ihm einen Streich.

Unter Regie von Jona Manow spielt sich das Intendantenduo Sandra Kiefer und Lars Ceglecki gemeinsam durch einen Theaterabend voller Spannung, Sinnlichkeit und Sinnsuche. Beide sorgen in weißes Licht getaucht für einen Nebel der Hoffnung, der Hingabe und des Herzbluts.

Das phantastische Bühnenbild von Heike Böttcher sorgt für viel Diskussionsstoff. Befinden wir uns im türkisen Glanze des Kanals, eines verlassenen Schwimmbades oder gar des Gemaches eines Träumers? Auf kleinstem Raum erstrahlen Bühne und Darsteller und verschmelzen zu einer Einheit. (...) A place to dream – erlebt die Magie!

(Mona Kampe, Titel  Kulturmagazin)

 

 

Von Berührungen wird berichtet

(...) Dann aber sind wir doch drin in diesem schwarzen Loch von Zimmerchen, über dessen Sogwirkung ich bei anderer Gelegenheit schon geschrieben habe. Haben uns brav beeilt mit der Getränkeauswahl, dabei die Luft angehalten, die Mund-Nasen-Bedeckung zurechtgezuppelt, die Meldezettel ordnungsgemäß ausgefüllt und die Meldekugelschreiber gleich mit in den Schlitz der stark nach Wahlurne (Trump oder Biden?) aussehenden Meldeutensilienbox geschoben.

Jetzt dürften wir eigentlich in passiver Konsumentenhaltung erstarren, wir haben schließlich dafür bezahlt. Aber wie gesagt: Corona macht uns alle zu Amöben, und in dieser Versuchsanordnung haben wir noch eine Rolle zu spielen.

Das Licht geht aus, die Masken fallen. Jedenfalls meine. Ich bin bei Dunkelheit nicht ansteckbar und auch nicht ansteckend. Doch, man kann so etwas beschließen. Wenn man sich sehr konzentriert, funktioniert es auch. Was gibt es eigentlich heute Abend? Ach, schau an: Dostojewski. Wenn ich ehrlich bin, ist es mir ganz egal gewesen. Ich wollte nur raus. Ein Einzeller, der aus seiner Einzelzelle ausbricht: Flucht vor Fernseher und Computer und der Endlosschleifensendung „Es wird alles noch viel schlimmer!“ (Das Hamstern geht wieder los, haben Sie schon gehört, beim Lidl kein Toilettenpapier!)

Stattdessen nichts wie rein ins richtige Leben, egal wie eingeschränkt, nur bitte aus Fleisch und Blut, direkt, unmittelbar, Auge in Auge, Atemzug um Atemzug. Einmal noch vor dem nächsten, dem längst eingeläuteten Lockdown. Gerne auch mit Dostojewski als Vorwand. Obwohl, diese alten Russen, ich weiß ja nicht, die schwafeln gerne und kommen nicht auf den Punkt, die hatten einfach zu viel Zeit damals und sonst von allem zu wenig. Aber warten wir mal ab. Geben wir Fjodor eine Chance. Bespielt mich! Lasst mich träumen! Mich vergessen! Das immerhin muss ja auch das Lebensgefühl des ollen Romanciers gewesen sein.

Und geträumt wird von der ersten Silbe an. Sandra Kiefer und Lars Ceglecki tasten sich in das rätselhafte Bühnenbild von Heike Böttcher hinein, die auch für die schrecklichen Onesies oder Strampler veranwortlich ist, in denen das Schauspielerpaar auftreten muss. Wo sind wir hier? In einem Schwimmbad? Einem Schlachthof? Einer psychiatrischen Klinik? Diese abwaschbaren Kacheln in Türkis, sie schreien: Anonymität. Sterilität. Verlorenheit. Sie schreien Corona.

Dostojewskis Novelle „Weiße Nächte“ berichtet laut Untertitel „aus den Memoiren eines Träumers“. Im kaltgrellen Sommernachtsleuchten von Sankt Petersburg kommen sich lieblose Verwirrte näher, verlieben sich, verlieren sich wieder. Berühren aber tun hier nur Worte. Gesten hingegen, diese menschlichsten aller Regungen, vermittelt die Regie von Jona Manow dadurch, dass sie berichtet, rezitiert, geradezu aufgesagt werden: „Sie streckte ihre Hand nach mir aus.“ Das muss genügen. Im kalten Licht der Wirklichkeit sehen wir Sandra Kiefer tatsächlich nur ein Kissen umklammern, die Grundausrüstung aller Träumenden. Und das mit anzusehen schmerzt in dieser Zeit, in dieser Welt, mehr als vermutet. Diese künstlich gehaltene Distanz zwischen den beiden. Diese niemals, bis zum Schluss nicht, überbrückbare Barriere. Nur Elementarteilchen existieren an jenem „lost place“, den die Kulisse darstellen soll. Wir aber, das Publikum, das nur ein einziger Schritt von diesem Ort der Verlorenheit trennt, wir dienen den beiden Schauspielern als Spiegel. Wenn sie uns anblinzeln aus dem grell ausgeleuchteten Viereck heraus und wir blinzeln aus dem Halbdunkel zurück, dann synchronisieren wir für Sekunden den Traum von menschlicher Berührung.

Das ist unsere Rolle als Publikum, nicht nur heute Abend, aber heute besonders: Komplizen einer zeitlosen Sehnsucht zu sein. Wir, das verwegene Dutzend auf den zwölf verbliebenen Stühlen, und die beiden dort vorn, wir wollen heute noch mal Mensch sein, bevor wieder die Axt fällt und die Dunkelheit der neuen Weltordnung uns alle verschlingt. Aber Dostojewski, der sich in russischen Kältegraden eingerichtet hat, hält nur den Traum davon für möglich.

Und doch macht auch dieser Abend die eigene und kollektive Existenz wieder etwas wärmer, wie immer im „Zimmer“. Da ist für 90 Minuten die Möglichkeit im Spiel, dass wir alle wieder zueinander finden könnten. Wenn auch nur zu zwölft. Wenn auch nur mit Worten. Wenn auch nur geträumt.

(Oliver Driesen, www.zeilensturm.de)